Remscheider SPD lehnt GroKo ab, titelte der Waterbölles am 16. Januar, nachdem rund 50 SPD-Mitglieder im Ämterhaus die Ergebnisse der Sondierungsgespräche ihrer Bundesparteiführung mit der CDU/CSU abgelehnt hatten. Zu dünn, zu unkonkret, zu wenig sozialdemokratisch lauteten die Hauptargumente gegen das bisher Erreichte. Und der einzige SPD-Delegierte, der frühere SPD-Unterbezirksvorsitzende Sven Wiertz, wurde aufgefordert, beim Sonderparteitag am 21. Januar in Bonn mit Nein zu stimmen bei der Frage, ob die SPD Koalitionsverhandlungen mit der Union aufnehmen solle.
Die Diskussionen auf dem Sonderparteitag in Bonn, vom Sender Phoenix in voller Länge übertragen, waren lang und teilweise heftig. Sie endeten mit einem knappen Ja zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Von den 642 Delegierten stimmten 362 (56,4 Prozent) dafür und 279 dagegen. Ein Delegierter enthielt sich der Stimme. Damit fiel die Entscheidung deutlich er als, als es die mehr als fünfstündige Debatte hatte erwarten lassen, in der viele Gegner von Verhandlungen mit CDU/CSU zu Wort gekommen waren. Sven Wiertz erfüllte gestern den Auftrat der Remscheider SPD und stimmte mit Nein. Nachfolgend der Gastkommentar
von Sven Wiertz
Der Sonderparteitag der SPD in Bonn bildete den Abschluss einer langen Debatte über die Ergebnisse der Sondierungsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU, die weit über die Grenzen der SPD hinaus einen politischen Diskurs befeuerte über das Für und Wider einer Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition, aber auch und wie ich meine wesentlich wichtiger über gesellschaftspolitische Zukunftsfragen. Es sind die damit zusammenhängenden großen Themen, die in zahllosen Vorgesprächen und Versammlungen vor diesem Sonderparteitag diskutiert wurden: Zukunft der Arbeit nach der digitalen Revolution, soziale Sicherheit in allen Lebenslagen und in jedem Lebensalter, gerechte Finanzierung des Gemeinwesens in seiner gesamten Breite von Stadt über Land bis zum Bund und mittelbar zur Europäischen Union. Das sind nur einige Schlagwörter der Grundsatzdiskussion, die uns auch in den kommenden Monaten begleiten wird. Die Sozialdemokratie braucht die programmatische Erneuerung. Der Ruf nach einem neuen Grundsatzprogramm wird laut, so auch auf dem Sonderparteitag der SPD. Im Zwiespalt zwischen programmatischer Erneuerung und pragmatischer Regierungsarbeit stand und steht die SPD vor und nach diesem Sonntag.
Eine leidenschaftliche, aber fair geführte Debatte hat gezeigt, dass es kein richtig oder falsch in einer solchen Lage geben kann. Bemerkenswert war die Konzentration, mit der zahlreiche Delegierte während der fünfstündigen, regen Diskussion, den Wortbeiträgen folgten, um auch am Rande des Parteitages über Argumente und Positionen zu diskutieren. In den acht Jahren, die ich als Delegierter der Remscheider SPD an Bundesparteitagen teilnehmen durfte, war der gestrige Sonderparteitag derjenige, der mir in Erinnerung bleiben wird als eine politische Auseinandersetzung, wie ich sie mir für die politische Kultur in unserem Land wünsche. Das Bekenntnis zu einer sachlichen Debatte, die durchaus emotional geführt werden kann. Der Verzicht auf persönliche Anwürfe und der Respekt für den anderen und seine Meinung. Das empfinde ich als Bereicherung für unser Land.
Es war die Fortsetzung aller Gespräche und Veranstaltungen aus den Tagen zuvor. Der Versammlung der Remscheider SPD, der Delegiertenvorbesprechung der NRW-SPD und teilweise nächtliche Telefongespräche. Das alles hat Kraft gekostet, was den meisten der Teilnehmer nicht nur anzumerken, sondern in die Gesichter geschrieben war. Das war eine wohltuende Alternative zum Alltag, in denen Blitzumfragen, effekthaschende Talkshows oder Meldungen auf Twitter den Eindruck einer Hysterie in der Politik vermitteln. Es kamen endlich wieder Journalisten zu Wort, die mit ihrem Sachverstand nicht in 140 Zeichen, sondern in gebotenem Umfang zur Meinungsbildung beitrugen.
Das alles verleitete mich zu Beginn der morgendlichen Vorbesprechung der NRW-SPD zu der nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung, der Hauch der Bonner Republik habe sich wieder bemerkbar gemacht, warum solle man die Hauptstadt nun nicht auch wieder an den Rhein holen. Die Berliner Republik ist nicht die Bonner Republik. Das haben wir in den zurückliegenden 20 Jahren gelernt. Der Politikbetrieb ist schnelllebiger und beliebiger geworden. Die anwesenden ehemaligen Vorsitzenden der SPD es fehlten drei weitere stehen dafür bildhaft. Genauso wie das Stimmungs- und Abstimmungsbild dieses Parteitages zeigt, dass es nicht um ein Gegeneinander von Mutterpartei SPD und ihrer Jugendorganisation, den Jusos, ging. Dieser Sonderparteitag hat gezeigt, dass die unterschiedlichen Meinungen und Haltungen der Gesellschaft sich in der SPD widerspiegeln. In Bonn stand damit nicht Parteipolitik im Mittelpunkt, sondern brandaktuelle Gesellschaftspolitik.
Ich habe das überwiegende Votum der Remscheider SPD mit auf diesen Parteitag genommen. Ich habe in Gesprächen für diese Position geworben und auch mit einigen Verhandlungsteilnehmer/innen über die Widersprüche des Papiers gesprochen. Die Forderung nach Nachverhandlungen in den drei Bereichen des Wegfalls der sachgrundlosen Befristung, der Vereinheitlichung der Honorarordnungen für private und gesetzlich Versicherte und des Familiennachzugs für zu uns geflüchtete Menschen mag ein Einsatz für die Verbesserung des Sondierungsergebnisses sein. Letztlich jedoch konnte mich dieser Vorschlag nicht überzeugen, weil diese Einzelpunkte keine grundsätzliche Aussage zur Arbeits- und Rentenpolitik enthalten, die aber mit Blick auf die wachsenden sozialen Probleme erforderlich sind.
Die Mehrheit des Sonderparteitages hat sich meiner Sichtweise nicht angeschlossen. Das kann aber weder für mich noch für andere bedeuten, sich in die Schmollecke zurückzuziehen. Ganz im Gegenteil: Auch in den nun bevorstehenden Verhandlungen, der anschließenden Bewertung des Ergebnisses und des Mitgliederentscheides gilt es um den besten Weg für unser Land zu ringen.
Deshalb war der Sonderparteitag kein Basta!, kein Schlusspunkt. Er ist die Einladung an alle, die sich leidenschaftlich für unsere Gesellschaft und unseren Staat einsetzen wollen. Übrigens nicht nur in der SPD, sondern in allen demokratischen Parteien. Ich bin fest davon überzeugt, wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr öffentliche Debatte, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Das zeichnet eine lebhafte Demokratie aus auch die in der Berliner Republik.